Gemeinsames Sorgerecht nach ausgeräumtem Missbrauchsverdacht – OLG Dresden 14.5.2013
Wenn sich nicht verheiratete Eltern trennen, möchten immer mehr Väter ein gemeinsames Sorgerecht haben. Die betroffenen Mütter betrachten das oft als Bevormundung und wehren sich manchmal, indem sie einen Missbrauchsverdacht äußern.
Anm. Maes zu OLG Dresden, Beschluss vom 14.05.2013, Az. 21 UF 787/12 in Juris Praxis Report Familien- und Erbrecht 1/2014 vom 7.1.2014.
Leitsatz- gemeinsames Sorgerecht nach ausgeräumtem Missbrauchsverdacht
„Sexualisierte“ Verhaltensweisen von Kindern können je nach den konkreten Umständen auch Ausdruck eines Entwicklungs- und Reifeprozesses sein, sie sind nicht zwangsläufig Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch.
A. Problemstellung
Wie tragfähig muss die soziale Beziehung des Vaters zur Mutter des Kindes sein, damit das Kindeswohl nicht durch seine Teilhabe an der elterlichen Sorge leidet?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Entscheidung des Familiengerichts
Auf seinen Antrag übertrug das AG Chemnitz dem nicht verheirateten Vater die elterliche Mitsorge für seinen damals dreieinhalbjährigen Sohn. Mit ihrer Beschwerde machte die Mutter unter anderem geltend, es bestehe der Verdacht, der Vater habe das Kind sexuell missbraucht. Dadurch sei das Elternverhältnis von Misstrauen und Vorwürfen geprägt.
gemeinsames Sorgerecht – Entscheidung des Oberlandesgerichts
Das OLG Dresden wies die Beschwerde der Mutter zurück. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 21.07.2010, Az. 1 BvR 420/09 sei dem nicht verheirateten Elternteil die Teilhabe an der elterlichen Sorge zu übertragen, sofern das dem Kindeswohl entspreche. Die Zugangsvoraussetzungen zur gemeinsamen elterlichen Sorge dürften nicht zu hoch angesetzt werden. Das gemeinsame Sorgerecht fördere das Wohl des Kindes. Nach der Trennung der Eltern habe eine tragfähige soziale Beziehung bestanden.
Kooperation des Vaters
Der Vater habe sich in der Vergangenheit kooperativ gegenüber der Mutter verhalten. Umgang und Erziehungsfragen seien mit professioneller Hilfe einvernehmlich geregelt worden. Der Vater sei mit dem Aufenthalt des Kindes bei der Mutter einverstanden. Außerdem habe er der griechisch-orthodoxen Taufe, der Wahl des Kindergartens und des Therapeuten zugestimmt. Er zeige ein reges Interesse an den Belangen des Kindes und die deutliche Bereitschaft, sich für die Interessen seines Sohnes einzusetzen. Die vor dem Oberlandesgericht getroffene Umgangsvereinbarung habe funktioniert. Es sei dadurch eine gefestigte Bindung zwischen Vater und Sohn entstanden. Die Eltern hätten auf Anregung des Oberlandesgerichts an einer Elternberatung zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit teilgenommen.
Sexueller Missbrauch nicht bestätigt
Demgegenüber sei der von der Mutter vermutete sexuelle Missbrauch des Kindes unbegründet. Weder die von ihr geschilderten sexualisierten Äußerungen des Kindes, noch die Beobachtung der Diplom-Psychologin ließen einen Schluss auf einen sexuellen Missbrauch durch den Vater zu. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass Kinder von ihrer Geburt an sexuelle Wesen seien Sie erforschten ihren eigenen Körper und den des anderen Geschlechts. Zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr wandle sich das Verhältnis zu den Eltern. Mutter und Vater würden zuletzt zu interessanten Liebesobjekten. In diesem Alter buhle die Tochter mit der Mutter um den Vater, kämpfe der Sohn mit seinem Vater um die Mutter. Dabei neigten Jungen im Alter zwischen drei und sechs Jahren dazu, gegenüber dem anderen Geschlecht mit ihren Genitalien zu prahlen. Vgl. hierzu Ernst/Herbst/Langbein/Skalnik, Kursbuch Kinder, Abschnitt 4 Entwicklung der Geschlechter, S. 288 ff.
Sexualisiertes Verhalten der Kinder altersgerecht
Vor diesem Hintergrund könnten die von der Mutter beschriebenen sexualisierten Äußerungen und Verhaltensweisen Ausdruck eines Entwicklungs- und Reifeprozesses sein und seien daher nicht zwangsläufig Anzeichen für einen sexuellen Missbrauch. Schließlich sei zu beachten, dass sich in der Vorstellungswelt der Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren manches in einer anderen Wertigkeit abspiele, als dies tatsächlich der Fall sei. Die Kinder seien in diesem Alter leicht beeinflussbar und es gelinge ihnen nur unzureichend, zwischen selbst Erlebtem und Gehörtem einerseits und aufgedrängten Interpretationen von Erwachsenen andererseits zu differenzieren. Außerdem neigten sie dazu, solche Aussagen zu wiederholen, auf die der jeweilige Elternteil mit besonderer Aufmerksamkeit reagiere. Vor diesem Hintergrund könne die Mutter nicht alles für bare Münze nehmen, was ihr Kind gesagt habe.
Keine objektiven Anhaltspunkte
Darüber hinaus seien keinerlei objektive Anhaltspunkte für den Missbrauchsverdacht der Mutter erkennbar, die gegen ein gemeinsames Sorgerecht sprächen. Die Verfahrensbeiständin habe festgestellt, dass das Kind seinem Vater angstfrei begegne. Es zeige auch im Kindergarten keine Verhaltensauffälligkeiten. Die Staatsanwaltschaft Chemnitz habe das Ermittlungsverfahren mangels hinreichendem Tatverdacht eingestellt. Der Vater habe sich freiwillig einer Untersuchung mit einem Lügendetektor unterzogen. Das von ihm vorgelegte forensisch-physio-psychologische Gutachten habe ebenfalls die Vorwürfe der Mutter nicht bestätigt. Die Untersuchung mit einem Lügendetektor sei im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ein geeignetes Mittel, einen Unschuldigen zu entlasten. Auch, wenn es sich bei dem erwähnten Gutachten um ein privates Sachverständigengutachten handle, sei es ein weiteres Indiz für die Unschuld des Vaters.
Nach allem bestünde kein Anlass, den Vater von der elterlichen Sorge auszuschließen oder das von der Mutter beantragte Sachverständigengutachten einzuholen. Die subjektive Überzeugung der Mutter, es sei in der Vergangenheit zu Grenzüberschreitungen gekommen, dürfe nicht dazu führen, dem Vater das ihm grundsätzlich zustehende Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG zu entziehen. Sie sei vielmehr gehalten, an sich zu arbeiten, um ihre Ängste, in die sie sich hineingesteigert habe, wieder abzubauen, notfalls mit therapeutischer Hilfe (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 30.06.1995 – 6 UF 60/95 – FamRZ 1995, 1432). Den Eltern sei zumutbar, die erforderlichen Anstrengungen zu unternehmen, die gemeinsame Sorge für ihren Sohn auszuüben. Die aus dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs durch die Mutter entstandenen Spannungen und Konflikte der Eltern führten nicht zu der Annahme, dass die Alleinsorge der Mutter dem Wohl des Kindes entspreche.
C. Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung wurde noch nach alter Rechtslage, also auf der Grundlage der Entscheidung des BVerfG vom 21.07.2010 (1 BvR 420/09 – FamRZ 2010, 1403) getroffen. Diese Entscheidung hatte erstmals nicht verheirateten Vätern den Zugang zum gemeinsamen Sorgerecht eröffnet, sofern das dem Kindeswohl diente. Sogenannte positive Kindeswohlprüfung. Seit dem 19.05.2013 lässt es der neugefasste § 1626a BGB ausreichen, wenn die Beteiligung des Vaters an der gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht. Sogenannte negative Kindeswohlprüfung, vgl. BT-Drs. 17/11048, S. 17. Damit brachte der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die gemeinsame elterliche Sorge grundsätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungen zu beiden Elternteilen entspricht.
Nur in Ausnahmefällen sollte von der gemeinsamen Sorge abgewichen werden. Zwar sollten die Gerichte weiterhin die soziale Beziehung der Eltern, also ihre Kooperationswilligkeit und Kooperationsfähigkeit prüfen, allerdings dürften bereits manifest gewordene Kommunikationsschwierigkeiten nicht zwangsläufig zur Ablehnung der gemeinsamen elterlichen Sorge führen. Von den Eltern müsse vielmehr erwartet werden, dass sie Mühen und Anstrengungen auf sich nehmen, um zu gemeinsamen Lösungen im Interesse des Kindes zu gelangen.
Ablehnung der Mutter der Mitsorge nicht ausreichend
Allein die Ablehnung der gemeinsamen Sorge durch die Mutter spreche noch nicht gegen eine Mitsorge des Vaters. Denn sonst hätte sie es in der Hand, zu bestimmen, ob es zu einer gemeinsamen Sorge kommt oder nicht. Demgegenüber lehnen die Gerichte auch nach der neuen Rechtslage eine gemeinsame Sorge ab, wenn nicht einmal ein Mindestmaß an gegenseitiger Wertschätzung unter den Eltern festgestellt werden kann. Und wenn keine Bereitschaft unter den Eltern besteht, hieran etwas zu ändern, etwa durch die Aufnahme von Elterngesprächen unter professioneller Begleitung, durch Belegung von Elternkursen wie etwa „Kind im Blick“. Dann verbleibt es beim alleinigen Sorgerecht der Mutter (vgl. KG, Beschl. v. 15.05.2013 – 18 UF 215/11). Gleiches gilt bei ungebremster Prozesswut der Eltern (vgl. OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.09.2013 – 9 UF 96/11).
Instruktiv ist auch der Beschluss des OLG Braunschweig vom 09.03.2012 – 2 UF 174/11: Dort wurde einem nicht verheirateten Vater ein gemeinsames Sorgerecht verweigert, weil er massiv und ohne Rücksprache mit der Mutter eigene Erziehungsvorstellungen verfolgte. Das gemeinsame Kind habe er als Postbote missbraucht. So habe er erst auf Aufforderung des Senatsvorsitzenden die Mutter darüber informiert, wie viel Taschengeld er dem Kind zahle.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die neue Rechtslage seit dem 19.05.2013 wird auch Auswirkungen auf Sorgerechtsverfahren unter verheirateten Eltern haben. Es dürfte noch schwerer werden, die Alleinsorge zu bekommen, nachdem der Gesetzgeber klargestellt hat, dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl in der Regel am besten dient. Die Entscheidung des OLG Dresden macht deutlich, dass die von einigen Müttern immer noch gezogene „Notbremse Kindesmissbrauch“ nicht verfängt, was betroffenen Müttern in der anwaltlichen Beratung nahegebracht werden sollte. Den Vätern sollte die Erarbeitung echter, nicht strategischer Wertschätzung gegenüber der Mutter nahegelegt werden.
Ein gemeinsames Sorgerecht ist nicht in erster Linie Rechtsanspruch, sondern Verpflichtung, die nicht ganz ohne „Krötenschlucken“ umgesetzt werden kann. Die juristische Aufgabe des Rechtsanwaltes tritt in den Hintergrund. Stattdessen sollte der Rechtsanwalt seine Mandanten nach Kräften unterstützen, die soziale Beziehung zum anderen Elternteil zu verbessern und zu vertiefen, wenn schon nicht für den anderen, dann wenigstens für sich selbst und dem Kind zuliebe. Strategien zur Vermeidung oder Erstreitung der elterlichen Sorge bringen selten das gewünschte Ergebnis und wirken sich dann eher kindeswohlschädlich aus.