Testamentsauslegung Befreiung des Vorerben ohne ausdrückliche Formulierung
Anmerkung Maes zu OLG Hamm, Beschluss vom 27.04.2010, Az. 15 Wx 234/09 in Juris Praxisreport Familien- und Erbrecht 4/2011 vom 20.2.2011
Leitsatz
Auch ohne ausdrückliche Formulierung in dem Testament kann eine Befreiung des Vorerben von den Beschränkungen der Nacherbfolge anzunehmen sein, wenn die Motivation des Erblassers für die Anordnung der Nacherbfolge maßgebend auf der Vorstellung beruhte, eine Vererbung des Familienvermögens an die Ehefrau des Vorerben auszuschließen, es dem Erblasser demgegenüber nicht entscheidend darauf ankam, Immobilienbesitz in seinem vorhandenen konkreten Bestand im Familienbesitz zu erhalten.
A. Problemstellung
Unter welchen Voraussetzungen ist von einer Befreiung des Vorerben auszugehen, obwohl sie im Testament nicht ausdrücklich angeordnet ist?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Erblasserin setzte ihre beiden Söhne als Erben ein, wobei sie dem einen Sohn (Beteiligter zu 2.) ein Wohn- und Geschäftshaus und ein Ackergrundstück, dem anderen (Beteiligter zu 1.) ein Wohn- und Geschäftshaus und ein Wohnhaus vererbte. Einen Tag später verfügte sie ergänzend, dass im Falle des Ablebens des Beteiligten zu 2. oder dessen leiblicher Erben sein Erbteil an seinen Bruder bzw. an dessen Kinder zurückfallen sollte. Auf Antrag des Beteiligten zu 2. erteilte das Amtsgericht einen gemeinschaftlichen Erbschein, der beide Brüder ohne Beschränkungen zu je ½ als Erben auswies. Der Beteiligte zu 1. beantragte, diesen Erbschein einzuziehen oder dahin zu korrigieren, dass der Beteiligte zu 2. lediglich unbefreiter Vorerbe geworden sei, er dagegen, ersatzweise seine fünf namentlich benannten Töchter, zu Nacherben berufen seien. Er berief sich hierbei auf die nachträgliche Regelung zum Testament. Demgegenüber wandte der Beteiligte zu 2. ein, die im Testament erwähnten Grundstücke seien ihm und seinen Bruder bereits als Vorausvermächtnis zugewandt worden, woraus sich ergäbe, die Nacherbfolge sei nicht angeordnet worden, wenigstens aber seine Befreiung von den Beschränkungen der Nacherbfolge gemäß § 2136 BGB.
Nach Vernehmung von Zeugen zog das Amtsgericht den gemeinschaftlichen Erbschein als unrichtig ein und erließ einen Vorbescheid, wonach beim Beteiligten zu 2. die Nacherbfolge angeordnet wurde und er als Vorerbe nur zur freien Verfügung über ein Wohn- und Geschäftshauses berechtigt sei. Hiergegen legten die Beteiligten Beschwerden ein, worauf das Landgericht den Vorbescheid aufhob und die Beschwerde des Beteiligten zu 2. zurückwies.
Die weiteren Beschwerden der Beteiligten wies das OLG Hamm als unbegründet zurück, weil die Entscheidung des Landgerichts nicht auf einer Verletzung des Rechts beruhe (§ 27 Abs. 1 Satz 1 FGG). In formeller Hinsicht hielt das OLG Hamm den Vorbescheid wegen des streng antragsgebundenen Erbscheinverfahrens für unzulässig, da ein Erbschein mit diesem Inhalt weder beantragt noch mit einem derartigen Antrag zu rechnen war.
Inhaltlich bestätigte das OLG Hamm die Testamentsauslegung des Landgerichts, wonach der Beteiligte zu 2. als befreiter Vorerbe anzusehen sei. Die Auslegung könnte im Verfahren der weiteren Beschwerde nur dahingehend überprüft werden, ob sie nach den Denkgesetzen und der feststehenden Erfahrung möglich sei. Sie müsse nicht zwingend sein, lediglich mit den gesetzlichen Auslegungsregelungen im Einklang stehen, dürfe dem klaren Sinn- und Wortlaut der Erklärung nicht widersprechen und müsse alle wesentlichen Tatsachen berücksichtigen. Diese Auslegungskriterien habe das Landgericht rechtsfehlerfrei angewandt. Zu Recht habe das Landgericht ein Vorausvermächtnis i.S.d. § 2150 BGB abgelehnt, da die Erblasserin mit den ihren Söhnen zugewiesenen Grundstücken und den ihren Enkelkindern zugewiesenen Sparguthaben ihren Nachlass ausgeschöpft habe, so dass sich ein Vorausvermächtnis nur noch als wirtschaftlich leere Hülle dargestellt hätte. Die Erbeinsätze, die gegenständliche Aufteilung des Nachlasses und die zusätzliche Anordnung für den Erbteil des Beteiligten zu 2. sei vom Landgericht zu Recht als Einheit angesehen worden. Durch den Zusatz im Testament sei keine Ersatzerbfolge, sondern eine Nacherbfolge i.S.d § 2100 BGB angeordnet worden. Hierfür gebe auch die untechnische Bezeichnung „zurückfallen“ einen deutlichen Anhaltspunkt. Rechtsfehlerfrei sei schließlich die Ausführung des Landgerichts, die Erblasserin habe den Beteiligten zu 2. im Umfang des § 2136 BGB von den Beschränkungen der Nacherbfolge befreit. Diese Befreiung müsse in einer letzten Lebensverfügung nicht ausdrücklich erklärt werden. Es genüge, wenn ein dahin gehender Wille des Erblassers im Testament irgendwie, wenn auch nur andeutungsweise oder versteckt zum Ausdruck komme. Dann könnten auch sonstige, außerhalb des Testaments liegende Umstände zu dessen Auslegung herangezogen werden (vgl. Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschl. v. 24.06.2004 – 3Z BR 096/04, 3Z BR 96/04 – FamRZ 2005, 64, 67; OLG Hamm, Beschl. v. 27.11.1996 – 15 W 355/96 – NJW-RR 1997, 453, 454). Danach durfte das Landgericht die Aussagen der Zeuginnen in seine Würdigung mit einbeziehen, wonach die Erblasserin geäußert haben soll, der Beteiligte zu 2. solle zu seinen Lebzeiten über den Grundbesitz in O. frei verfügen können. Die Erblasserin habe dem Beteiligten zu 2. keinerlei Barvermögen, sondern ausschließlich eine Immobilie hinterlassen, die weitgehend gewerblich für einen Gaststättenbetrieb genutzt werde. Wegen der Schnelllebigkeit dieses Gewerbes müsse damit gerechnet werden, dass die bisherige Nutzung nicht fortgeführt werden könne oder Umstellungen mit baulichen Veränderungen erforderlich seien, verbunden mit hohen Investitionskosten, die ein nichtbefreiter Vorerbe ohne entsprechenden Bar-Nachlass nicht aufbringen könne. Im Falle einer unbefreiten Vorerbschaft sei der Beteiligte zu 2. erheblich gegenüber seinem Bruder benachteiligt. Es könne keine Motivation der Erblasserin auf eine derartige Ungleichbehandlung ihrer beiden Söhne gefunden werden. Den Aussagen der Zeuginnen sei vielmehr zu entnehmen, dass die Erblasserin ihre beiden Söhne gleich behandeln wollte, was durch eine nicht befreite Vorerbschaft nicht hätte umgesetzt werden können.
Das Landgericht fand auch keine überzeugenden Gründe, weshalb die Erblasserin für eine Immobilie eine nicht befreite Vorerbschaft für die andere hinterlassene Immobilie dagegen eine befreite Vorerbschaft angeordnet haben sollte. Aufgrund der Zeugenaussagen liege nahe, die Erblasserin habe durch die angeordnete Vorerbschaft lediglich vermeiden wollen, dass ihr Nachlass in die Hand der Schwiegertöchter gerate. Gegenüber dem Beteiligten zu 1. habe die Erblasserin verlangt, er solle mit seiner Ehefrau Gütertrennung vereinbaren. Wenn es aber der Erblasserin darauf angekommen sei, das Vermögen im Familienbesitz zu belassen, habe kein Grund bestanden, darüber hinaus den Beteiligten zu 2. lebenslang den Verfügungsbeschränkungen einer nicht befreiten Vorerbschaft zu unterwerfen und ihm die notwendige wirtschaftliche Bewegungsfreiheit bei der Verwaltung des teilweise gewerblich genutzten Immobilienbesitzes zu verwehren. Bei dieser Sachlage durfte das Landgericht als zusätzliches Indiz für die Auslegung berücksichtigen, dass der Beteiligte zu 2. an dem gewerblichen Gebäude erhebliche wertsteigernde Umbaumaßnahmen durchgeführt habe.
C. Kontext der Entscheidung
Wenn Streit über die Auslegung einer letztwilligen Verfügung ausbricht, müssen die damit befassten Tatsacheninstanzen umfangreiche Ermittlungen zum Willen des Erblassers anstellen, was zu sehr langen Prozessen mit ungewissem Ausgang führt. Wichtigstes Beweismittel sind Zeugenaussagen, die sich häufig widersprechen. Die gezogenen Rückschlüsse des Tatsachengerichts müssen nicht zwingend, wenigstens aber nachvollziehbar sein (vgl. OLG München, Beschl. v. 16.04.2007 – 31 WX 109/06). Dadurch ergibt sich die Gefahr, das auch solche Auslegungen, die keiner der Beteiligten erwartet hätte, mit der weiteren Beschwerde unangreifbar bleiben.
D. Auswirkungen für die Praxis
Vielen Erblassern ist nicht bekannt, dass langwierige Erbstreitigkeiten durch klare letztwillige Verfügungen vermieden werden können. Je komplexer die letztwillige Verfügung ist, desto eher sollte professionelle rechtsanwaltliche Hilfe bei der Abfassung der letztwilligen Verfügung in Anspruch genommen werden. Hilfreich sind auch erbrechtliche Auslegungsverträge (vgl. Beitrag von jurisPR-FamR 11/2009 Anm. 2, Mleczko).