Verweigerung der Bluttransfusion
Bei Verweigerung der Bluttransfusion für ein Kind kann das Familiengericht die Entscheidung auf einen Elternteil übertragen. Anmerkung Maes zu KG Berlin, Beschluss vom 5. September 2022, Az. 16 UF 64/22 in Juris Praxisreport Familienrecht 23/2023 vom 12.12.2023.
Problemstellung
Wenn ein Elternteil die Frage der Bluttransfusion allein entscheiden will, ist zu prüfen, ob eine konkrete, situative Regelung gemäß § 1628 BGB angezeigt ist oder ob der Entzug eines Teilbereichs der elterlichen Sorge gemäß § 1671 BGB in Betracht kommt.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Amtsgericht hatte dem Vater die Entscheidungsbefugnis über die Vornahme einer Bluttransfusion erteilt, falls sie im Rahmen einer Operation erforderlich sein sollte.
Mit ihrer hiergegen gerichteten Beschwerde hatte die Mutter des Kindes vor dem Kammergericht Erfolg.
Das KG ist zu dem Ergebnis gekommen, die Voraussetzungen für die Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf den Vater gemäß § 1628 Satz 1 BGB liegen nicht vor.
Konkrete oder hypothetische Situation?
Denn es gehe ihm nicht um die Regelung einer konkreten Angelegenheit der elterlichen Sorge, sondern um einen hypothetischen Fall. Da § 1628 BGB restriktiv auszulegen sei, können allenfalls Einzelfallentscheidungen auf diese Vorschrift gestützt werden. Andernfalls würden die tatbestandlichen Hindernisse der §§ 1666, 1666a und 1671 BGB unterlaufen.
Generelle Frage der Gesundheitssorge?
Soweit die Eltern in einer generellen gesundheitlichen Frage uneins sein, komme allenfalls eine teilweise Übertragung des Sorgerechts nach § 1671 BGB in Betracht. Allerdings sei im vorliegenden Fall eine Übertragung der Entscheidungsbefugnis nicht gerechtfertigt. Es sei nicht zu erwarten, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge in diesem Teilbereich und Übertragung auf den Vater dem Wohl des Kindes am besten entspreche, wie dies § 1671 Satz 2 Nr. 2 BGB verlange.
Entzug des Sorgerechts ist die Ausnahme
Eine Sorgerechtsentziehung, auch wenn sie nur einen Teilbereich der elterlichen Sorge betreffe, stelle einen Eingriff in das Elternrecht der Mutter dar, der den Anforderungen des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gerecht werden müsse.
Danach müsse die Sorgerechtsentziehung geeignet und erforderlich sein, um eine Kindeswohlgefährdung abzuwehren. Aber davon könne im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Zum einen habe die Mutter auf alternative Methoden zur Bluttransfusion hingewiesen, außerdem habe eine fachärztliche Aufklärung der Mutter über die Möglichkeiten und Grenzen dieser alternativen Methoden unstreitig noch nicht stattgefunden.
Die Haltung zur Bluttransfusion kann sich ändern
Außerdem könne aus der ablehnenden Haltung der Mutter nicht geschlossen werden, dass sie im konkreten Fall ihre Zustimmung zur Bluttransfusion verweigern würde, falls die alternativen Methoden nicht erfolgsversprechend sein. Schließlich überließen die Zeugen Jehovas die Entscheidung über die Gabe von sog. Blutfraktionen ihren Gemeindemitgliedern.
Abstrakte Beurteilung im Vorfeld nicht möglich
Daher könne nicht abstrakt im Vorfeld beurteilt werden, wie die Gewissensentscheidung der Mutter im konkreten Fall aussehen würde. Folglich komme eine Anwendung des § 1628 BGB nur in Betracht, wenn die Mutter in einem konkreten Behandlungsfall ihre Zustimmung zur Bluttransfusion verweigere.
Im Notfall ebtscheiden die Ärzte
Abgesehen davon würden sich die Ärzte bei einem akuten und unaufschiebbaren Eingriff am mutmaßlichen Willen des Patienten bzw. seiner Eltern orientieren und daher eine Bluttransfusion durchführen, wenn sie erforderlich sei.
Kinderschutzverfahren gem. § 1666 BGB
Wäre die Mutter im Notfall allein vertretungsberechtigt und verweigere die Bluttransfusion, würde das Familiengericht eine Entscheidung nach § 1666 BGB treffen, da dann eine missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge im Raum stünde (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 21.02.1994 – 17 W 8/94).
Jedenfalls fehle es im vorliegenden Fall an einer konkreten Situation, die Voraussetzung für eine Regelung gemäß § 1628 BGB sei.
Kontext der Entscheidung
Die vorliegende Entscheidung steht im Einklang mit den Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte zur Anwendbarkeit des § 1628 BGB.
Schulwahl
Das OLG Frankfurt lehnte mit Beschluss vom 18.04.2019 (4 UF 81/19) die Übertragung der Entscheidung über schulische Belange ab, weil sie den anderen Elternteil in seinen Rechten aus Art. 6 GG verletze und nicht das mildeste Mittel darstelle. Nur bei Streit um den Besuch einer konkreten Schule sei einem Elternteil die Entscheidung zu übertragen.
Polizeiliche Anmeldung des Kindes
Das OLG München lehnte die Übertragung des Rechtes auf polizeiliche Anmeldung eines Kindes ab (OLG München, Beschl. v. 25.01.2008 – 12 UF 1776/07). Die Uneinigkeit der Eltern berühren nicht erhebliche Belange des Kindes, sondern betreffen finanzielle Interessen der Eltern.
Taufe des Kindes
Das OLG Düsseldorf lehnte mit Beschluss vom 19.05.2020 (3 WF 186/19) den Antrag auf Bestimmung des Tauftermins ab, weil er angesichts der Übereinstimmung der Eltern, dass das Kind getauft werden solle, keine erheblichen Belange des Kindes berühre. Nur bei Streit der Eltern über die Notwendigkeit einer Taufe sei eine Entscheidung nach § 1628 BGB zu treffen (vgl. BGH, Beschl. v. 11.05.2005 – XII ZB 33/04).
Wechsel der Kita
Das OLG Brandenburg lehnte mit Beschluss vom 17.09.2007 (9 UF 156/07) die Übertragung der Bestimmung der Kita für einen Kitawechsel aus Bequemlichkeit ab.
Namensänderung
Das OLG Oldenburg befürwortete den Antrag auf Entscheidung über eine Namensänderung (OLG Oldenburg, Beschl. v. 13.08.2014 – 13 UF 76/14).
Geltendmachung sozialrechtlicher Ansprüche für das Kind
Das OLG Thüringen sprach einem Elternteil die Vertretung des Kindes zur Geltendmachung von sozialrechtlichen Ansprüchen gemäß § 38 Abs. 2 SGB II zu, soweit der andere Elternteil seine Zustimmung in einem sozialgerichtlichen Verfahren verweigert hatte (OLG Thüringen, Beschl. v. 04.07.2014 – 1 UF 71/14).
Aufenthaltsbestimmungsrecht
Das OLG Zweibrücken lehnte die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts ab, da § 1628 BGB nur situative Entscheidungen zu konkreten Themen zulasse (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 29.06.2000 – 6 UF 73/99). Das Aufenthaltsbestimmungsrecht müsse über § 1671 BGB geregelt werden.
Reisepass für das Kind
Das OLG Köln übertrug der Mutter das Recht, Kinderreisepässe zu beantragen und in Empfang zu nehmen, um mit den Kindern eine Reise zu ihrer Familie nach Katar antreten zu können (OLG Köln, Beschl. v. 04.06.2004 – 4 WF 4/04).
Einschulung
Das OLG Hamburg wandte im Beschluss vom 22.06.2021 (12 UF 61/21) § 1628 BGB bei einen Elternstreit über die Wahl einer konkreten Schule an.
Umgansregelung
Das OLG Hamm lehnte mit Beschluss vom 07.11.2006 (3 UF 75/06) eine Umgangsregelung gemäß § 1628 BGB ab, weil die Vorschrift nicht einschlägig sei und nicht jeder Elternstreit das Wohl des Kindes verletze.
Anstehende Operation des Kindes
Das OLG Celle entzog den Eltern die Entscheidungsbefugnis über die Bluttransfusion nach § 1666 BGB, um eine konkret anstehende Operation des Kindes durchführen zu können (OLG Celle, Beschl. v. 21.02.1994 – 17 W 8/94).
Auswirkungen für die Praxis
Wenn Eltern zerstritten sind, erliegen sie häufig der Illusion, die Regelung des Sorgerechts mache das Leben einfacher. Dabei ist ihnen häufig nicht klar, dass selbst bei alleinigem Sorgerecht der andere Elternteil immer noch ein Umgangsrecht hat und die Konflikte eher beim Umgang als bei der elterlichen Sorge entstehen.
Alleinige Entscheidung in täglichen Dingen
Denn nach § 1687 BGB kann der betreuende Elternteil allein ohne Zustimmung des anderen die meisten Sorgerechtsbereiche regeln. Die wenigen Sorgerechtsbereiche von tatsächlicher Bedeutung können zwar nach § 1671 BGB als Teilbereiche der elterlichen Sorge auf einen Elternteil übertragen werden, aber nur, wenn die Aufhebung der gemeinsamen Sorge in diesem Teilbereich dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
Alleiniges Sorgerecht muss die Situation des Kindes verbessern
Häufig scheitert das an Art. 6 GG, der eine Grundrechtsabwägung vorschreibt. Da die Streitigkeiten der Eltern meistens über das Umgangsrecht ausgetragen werden, schafft die Übertragung des Sorgerechts keine Verbesserung für das Kind.
Kein Sorgerecht auf „Vorrat“
Abgesehen davon kann man sich das Sorgerecht nicht „auf Vorrat“ für den Fall der Fälle übertragen lassen. Das geht auch nicht mit der Begründung, der andere Elternteil habe durch sein bisheriges Verhalten bereits gezeigt, dass er in einem hypothetischen Fall seine Zustimmung, hier zur Bluttransfusion, verweigern werde. Es kommt also auf die konkrete Situation an.
Demgegenüber ist die dauerhafte Übertragung eines Teilbereichs der elterlichen Sorge nur in seltenen Fällen erfolgreich.
Daher ist die Entscheidung des Kammergerichts zu begrüßen, sorgerechtliche Eingriffe auf das Allernötigste zu beschränken.