BGH behindert das Wechselmodell bzw. die Doppelresidenz
Wer bislang glaubte, beim Wechselmodell sei das Kindergeld hälftig unter den Eltern aufzuteilen, wurde durch den BGH Beschluss vom 20.4.2016 zur Kindergeldverteilung eines besseren belehrt. Was einfach, einleuchtend und gerecht ist, wird beim BGH kompliziert, schwierig und ungerecht. Es wird offenbar: Der BGH behindert damit das Wechselmodell bzw. die Doppelresidenz des Kindes.
Was hatte der BGH zu entscheiden?
Die Eltern praktizierten ein sogenanntes paritätisches Wechselmodell, in dem sich die Kinder jeweils mit gleichen Zeitanteilen bei jedem Elternteil im Wochenwechsel aufhielten. Dabei kamen die Eltern überein, gegenseitig keinen Kindesunterhalt zu zahlen. Allerdings bekam die Mutter das Kindergeld, wollte es aber mit dem Vater nicht teilen.
Entscheidungen der Vorinstanzen
Amtsgericht und Oberlandesgericht Schleswig hatten die Mutter verurteilt, dem Vater das hälftige Kindergeld zu überlassen, der BGH hob diese Entscheidungen teilweise auf.
Begründung des BGH
Der BGH war der Auffassung, nur die Hälfte des Kindergeldes dürfte verteilt werden mit der Folge, dass der Vater nur 1/4 ausgezahlt bekam. Das folge aus § 1612 b Abs. 1 Nr.1 BGB, wonach das Kindergeld dann zur Hälfte auf den Unterhaltsbedarf des Kindes zu verrechnen sei, wenn wenigstens ein Elternteil seine Unterhaltspflicht durch Betreuung des Kindes erfülle.
Kritik
Die Begründung des BGH ist nicht überzeugend. Es hat daher den Anschein, der BGH verfolge politische Ziele, wozu er verfassungsmäßig aufgrund der Gewaltenteilung nicht befugt ist.
Gesetzeswidrige Auslegung des § 1612 b Abs. 1 BGB
Der BGH hätte näher darlegen müssen, weshalb er sich für seine Auslegung entschieden hat. Denn aus dem Wortlaut des § 1612 b Abs. 1 Nr.1 BGB ist exakt das Gegenteil abzuleiten:
Das Gesetz wurde für das Residenzmodell geschaffen, also für die Fälle, in denen das Kind von einem Elternteil betreut wird. Dann soll sich der andere das halbe Kindergeld vom Tabellenbetrag der Düsseldorfer Tabelle abziehen dürfen.
Daraus folgt im Umkehrschluss, dass diese Vorschrift nicht anwendbar ist, wenn beide Elternteile das Kind betreuen. Für alle anderen Fälle schreibt § 1612 b Abs. 1 Nr. 2 BGB den vollen Abzug des Kindergeldes vor, was den Unterhaltszahler deutlich stärker entlastet hätte.
Damit beging der BGH mit seiner Gesetzesauslegung einen eklatanten Rechtsbruch zulasten des mitbetreuenden Elternteils.
Residenzmodell und Doppelresidenzmodell werden gleich behandelt
Neben der falschen Gesetzesauslegung argumentiert der BGH damit, beim Wechselmodell seien die Eltern zum einen barunterhaltspflichtig, zum anderen betreuten sie das Kind hälftig. Beides müsse bei der Kindergeldverteilung berücksichtigt werden.
Dieser Argumentation leitet sich von der Fehlvorstellung des BGH ab, das Wechselmodell oder Doppelresidenzmodell sei rechtlich nach den Vorgaben des Residenzmodells zu behandeln. Dabei negiert er, dass mehr Unterschiede, als Gemeinsamkeiten bestehen.
BGH bestraft Eltern, die das Wechselmodell praktizieren
Durch die Übertragung der Grundsätze des Residenzmodells und der Düsseldorfer Tabelle auf das Wechselmodell wird es viele Eltern zu einer unzumutbaren finanziellen Belastung.
Für den besser verdienenden Elternteil wird das Wechselmodell trotz hälftiger Betreuung der Kinder teurer, als das Residenzmodell (vgl. Kindergeldentscheidung OLG Dresden).
Trotz des ungerechten Ergebnisses bestätigt der BGH den Denkansatz des OLG Dresden, wonach das Wechselmodell nach den Grundsätzen des Residenzmodells zu beurteilen ist.
Unterhaltsermittlung nach dem Einzelfall
Mit seiner Entscheidung setzt sich der BGH zu seinen eigenen Vorgaben in Widerspruch. Danach soll der Unterhalt immer im Einzelfall ermittelt werden. Allein dies müsste es eigentlich verbieten, die Düsseldorfer Tabelle oder Gesetze anzuwenden, die erkennbar für das Residenzmodell geschaffen wurden. Folglich hätte der BGH das zur Entscheidung stehende Doppelresidenzmodell als Einzelfall behandeln müssen und nicht als Unterform des Residenzmodells betrachten dürfen.
Doppelresidenzmodell als neue Form gemeinsamer Kindesbetreuung
In ihrer Fixierung auf das überkommene Residenzmodell haben Rechtsprechung und Rechtswissenschaft verkannt, dass im Doppelresidenzmodell letztlich eine neue Form gemeinsamer Betreuung der Kinder zu sehen ist.
Wenn die Eltern die Kinder wechselseitig betreuen, dann ist ein ähnlicher Zustand erreicht, wie er bei zusammenlebenden Eltern bestand. Das Gesetz schreibt für die Fälle der Ausübung gemeinsamer Sorge in § 1626 BGB vor, dass die Eltern die Pflicht und das Recht haben, für das minderjährige Kind zu sorgen. Im Klartext bedeutet das natürlich, dass Kind zum einen zu betreuen, zum anderen aber auch den Unterhaltsbedarf des Kindes sicher zu stellen.
Damit bleibt aber kein Raum mehr für das künstliche Konstrukt des BGH, zwischen Barunterhalt und Naturalunterhalt zu unterscheiden, wie das beim Residenzmodell nötig war, also dann, wenn sich das Kind bei einem Elternteil schwerpunktmäßig aufhält.
Vor diesem Hintergrund haben sowohl das Amtsgericht Schleswig als auch das Oberlandesgericht Schleswig richtig entschieden.
Was bezweckt der BGH mit dieser Rechtsprechung?
Da die Richter beim BGH zu den besten Juristen der Bundesrepublik gehören, handelt es sich nicht um ein juristisches Versehen. Es geht dem BGH offensichtlich um das Ergebnis.
Es hat den Anschein, dass die Doppelresidenz von Kindern beim BGH unerwünscht ist. Jedenfalls wird dem mitbetreuenden Elternteil keine adäquate finanzielle Entlastung zugebilligt.
Es hat weiter den Anschein, der BGH wolle die Sozialkassen auf Kosten des besser verdienenden Elternteils entlasten.
Damit würde der BGH in unzulässiger Weise Sozialpolitik machen.
Historische Entwicklung der Kinderbetreuung in Deutschland
Um die Motive des BGH herauszufinden, ist ein Ausflug in die jüngere Geschichte hilfreich.
Hausfrauenehe als Standard
Seit den 50iger Jahren bis hinein in die 90iger Jahre war in Deutschland die Hausfrauenehe das übliche Familienmodell. Die Mutter-Kind-Bindung erschien nach dem Stand der Wissenschaft enger und tiefer zu sein, als die Vater-Kind-Bindung.
Bei Trennung der Eltern: Kinder zur Mutter
Scheiterte die Ehe, wurden die Kinder nach der Scheidung von Amtswegen in die Hände der Mutter gegeben, die hierzu das alleinige Sorgerecht übertragen bekam. Sie betreute die Kinder, wie oft schon vor dem Scheitern der Ehe im Wesentlichen allein. Der Vater hatte sich mit ein paar Stunden Umgang alle 14 Tage zu begnügen. Damit wurde nach der Trennung das Residenzmodell zum Betreuungs-Standard. Da die Mütter als Hauptbezugspersonen der Kinder betrachtet wurden, kam den Vätern, wie schon vor der Trennung, im Wesentlichen die Funktion des Unterhaltszahlers zu.
Alleinerziehende Mütter
Vor allem in Ballungszentren entstand der Typus der Alleinerziehenden Mutter, die neben ihrer Berufstätigkeit die Kinder allein großzog. In vielen Fällen blieben die Väter den Kindesunterhalt schuldig und kümmerten sich gar nicht oder nur wenig um ihre Kinder. In anderen Fällen wurden sie allerdings konsequent aus dem Umfeld der Kinder entfernt.
Einführung der Düsseldorfer Tabelle
Die Zahl der Scheidungen stieg und immer mehr alleinerziehende Mütter waren auf eigenen Unterhalt und den ihrer Kinder angewiesen. Wenn die Väter den Unterhalt schuldig blieben, mussten das die Sozialkassen ausgleichen.
Es war also eine pragmatische Lösung wenigstens für den Kindesunterhalt angesagt. Um eine schnelle und einfache Unterhaltsfestsetzung zu gewährleisten und die Gerichte zu entlasten, erfand ein Richter am OLG Düsseldorf Anfang der 60iger Jahre die Düssseldorfer Tabelle. Diese Tabelle gibt es bis heute. Gesetzeskraft hat sie allerdings nicht.
Grenzen der Düsseldorfer Tabelle
Es ist schwierig bis unmöglich, den Bedarf eines Kindes zu standardisieren.
Dementsprechend bleibt es offen und ist nicht transparent, worauf die Eckdaten der Düsseldorfer Tabelle beruhen und ob sie stimmen.
Nach dem Gesetz leitet das Kind seine Lebensstellung von den Eltern ab. Bei prekären Verhältnissen können die Eltern nicht einmal den Mindestbedarf nach der Düsseldorfer Tabelle decken. Trotzdem lebt die Familie, ohne dass irgend jemand daran Anstoß nähme. Niemand würde auf den Gedanken kommen, die Eltern zu verpflichten, einen Nebenjob anzunehmen, um ihre Kindern nach dem Standard der Düsseldorfer Tabelle zu versorgen.
Weshalb soll auf einmal alles anders werden, wenn sich die Eltern trennen? Dieser Wertungswiderspruch führt zu Begehrlichkeiten. Häufig streiten die Eltern allein deshalb um den Aufenthalt der Kinder, um die vergleichsweise üppigen Unterhaltszahlungen nach der Düsseldorfer Tabelle zu bekommen.
Ausweitung der Düsseldorfer Tabelle über das Residenzmodell hinaus
Nachdem sich die Düsseldorfer Tabelle als praktisch erwiesen hatte, konnten die Gerichte der Versuchung nicht widerstehen, sie auch auf andere Betreuungsverhältnisse anzuwenden, für die sie nicht gedacht war.
Unterhalt für volljährige Kinder
Nach derzeitiger Gerichtspraxis ist das Einkommen der Eltern zusammenzurechnen und der Bedarf der 4. Altersstufe (ab 18 Jahren) zu entnehmen. Für den Bedarf sollen die Eltern gem. § 1606 Abs.3 BGB nach ihren Einkommensverhältnissen anteilig aufkommen. Hier ist schon fraglich, ob der Bedarf nach der 4. Altersstufe korrekt ermittelt und ob die Zusammenrechnung des Elterneinkommens hinreichend darauf abgestimmt ist.
Kritik
Die Ermittlung der Unterhaltsanteile der Eltern nach dem Gesetz verfälschte der BGH mit Urteil vom 5.11.1985 (IV b 69/84) dahin, dass vor Ermittlung der Quote der angemessene Selbstbehalt von heute 1.300,00 € abzuziehen ist, was je nach Einkommensgefälle der Eltern eine Quote von ca. 65 % auf über 90 % hochschnellen lässt. Dieses Problem ergibt sich auch beim Unterhalt im Wechselmodell bzw. Doppelresidenzmodell
Der BGH hat versagt
Obwohl das Doppelresidenzmodell bis heute gesetzlich nicht geregelt ist, besteht ein Bedürfnis, gerechte Regelungen für den Kindesunterhalt und damit auch für die Verteilung des staatlichen Kindergeldes zu finden. Denn das Residenzmodell ist ebenfalls gesetzlich nicht geregelt.
Lange Zeit haben sich Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Gedanken gemacht, wie diese Konstellation in den Griff zu bekommen ist.
Der BGH hat nun Farbe bekannt und das von ihm ungeliebte Betreuungsmodell als „Unterfall“ bzw. „Modeerscheinung“ des Residenzmodells abgetan. Damit konnte er es den fragwürdigen Wertungen der Düsseldorfer Tabelle und der damit im Zusammenhang stehenden Gesetze unterwerfen.
Im Ergebnis hat der BGH die gemeinsame Betreuung der Kinder durch getrennt lebende Eltern erschwert bzw. vereitelt. Damit hat er auch den betroffenen Kindern einen Bärendienst erwiesen. Sie brauchen beide Elternteile gleichermaßen für eine kindgerechte Entwicklung und keinen Elternteil allein für das Wochenende.
Der Gesetzgeber ist nun aufgerufen, gerechte Lösungen zu finden
Nachdem der BGH die richtigen Lösungsansätze der unteren Instanzen durchkreuzt hat, muss der Gesetzgeber tätig werden. Es liegt nun an ihm, die gesellschaftliche Realität anzuerkennen und für die betroffenen Eltern praktische und gerechte Lösungen zu schaffen.