Umfang der Erwerbsobliegenheit bei Betreuung eines achtjährigen Schulkindes
Anmerkung Maes zu: KG (Berlin) 16. Zivilsenat, Urteil vom 8.1.2009 in Juris Praxisreport Familien- und Erbrecht 6/2009 vom 24.3.2009
Leitsatz
Nach der Scheidung ist der betreuende Elternteil des gemeinsamen achtjährigen Kindes auch nach neuem Unterhaltsrecht nicht verpflichtet, das Kind – abweichend von der während der Ehe praktizierten Kindesbetreuung – ganztägig in eine Fremdbetreuung zu geben, um selbst einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachgehen zu können und seinen Unterhaltsbedarf selbst zu decken.
A. Problemstellung
Das Kammergericht hatte zu entscheiden, inwieweit der betreuende Elternteil vorhandene staatliche Betreuungseinrichtungen, Betreuung durch die Großeltern und durch den anderen Elternteil nutzen muss, um seiner Erwerbsobliegenheit nachkommen zu können.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Gestritten wurde über den Unterhalt für die Betreuung eines achtjährigen Kindes. Die Ehe der Parteien wurde 1999 geschlossen und 2008 geschieden. Das Kind besucht nach der Schule bis 15 Uhr den Hort. Seit seinem 4. Lebensjahr arbeitete die Mutter 25 Wochenstunden.
Das Kammergericht bestätigt die Auffassung des Amtsgerichts, der betreuenden Mutter sei eine Ausweitung Ihrer Tätigkeit nicht zumutbar. Sie sei auch nicht auf die Betreuung durch die Großeltern zu verweisen, da es sich um freiwillige Leistungen Dritter handele. Die teilweise Betreuung durch den Kindesvater sei wegen erheblicher Kommunikationsprobleme der Eltern nicht angezeigt. Eine Herabsetzung oder Befristung des nachehelichen Unterhaltes sei nicht vorzunehmen, weil beim derzeitigen Alter des Kindes nicht prognostiziert werden könne, ob das Kind etwa eine weiterführende Schule besuchen würde und ob evtl. pubertär bedingte Schwierigkeiten aufträten. Je nach Entwicklung reduziere oder erhöhe sich der Betreuungsaufwand der Mutter. Die ersten drei Lebensjahre seien nicht als feste Grenze für den Betreuungsunterhalt anzusehen. Die Ziele des Gesetzgebers, das Kindeswohl zu fördern und die eigene Verantwortung nach der Ehe zu stärken, stünden in einem Spannungsverhältnis zueinander, das historisch gesehen nicht gewollt sei, wie die ursprüngliche Fassung des Regierungsentwurfs vom 15.06.2006 zeige. Die Frage einer Vollzeittätigkeit neben der Kindererziehung sei in der Begründung nicht angesprochen gewesen. Das tradierte Altersphasenmodell sollte stärke auf den konkreten Einzelfall und die tatsächlich bestehende, verlässliche Möglichkeit der Kinderbetreuung abstellen. Der Gesetzgeber habe das Altersphasenmodell nicht grundsätzlich abschaffen wollen, wie es in manchen Veröffentlichungen anklinge. Er habe nur eine flexiblere Anwendung für die über dreijährigen Kinder gewollt. Die Fremdbetreuung sollte zumutbar und verlässlich sein sowie im Einklang mit dem Kindeswohl stehen. In der jetzigen Regelung, die der Rechtsempfehlung des Rechtsausschusses in der BT-Drs. 16/6980 vom 07.11.2007 entspreche, sei der Grundsatz der nachehelichen Solidarität hervorgehoben, die wiederum an der tatsächlichen Gestaltung der Kinderbetreuung und der Erwerbstätigkeit während der Ehe und deren Dauer gemessen werden sollte. Keine der genannten Gesetzesgrundlagen deute auch nur an, dass es eine Verpflichtung der Eltern gebe, ihr Kind von 8 Uhr morgens bis 18 Uhr abends durch dritte Personen betreuen zu lassen.
Vor diesem Hintergrund könne nicht erwartet werden, dass ein achtjähriges Kind ganztägig in eine Fremdbetreuung gegeben werde. Bei vollschichtiger Tätigkeit müsste das Kind weitgehend auf mütterliche Zuwendung verzichten, wenn diese, wie nachvollziehbar dargelegt, erst um 18.45 Uhr nach Hause kommen könne. Damit sei das Wohl des Kindes unmittelbar nachteilig berührt. Ein Hort oder eine sonstige Fremdbetreuung sei nicht geeignet, die Vorbildfunktion der Eltern, die Vermittlung sozialer Kompetenz und die Fähigkeit zur Reflexion zu vermitteln, weil die persönliche, emotionale und genetisch beeinflusste Beziehung nicht die gleiche sei, zumal sich das Kind die Bezugsperson im Hort mit vielen anderen Kindern teilen müsse. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Grundschulen aufgrund des in Berlin bestehenden Personalmangels gerichtsbekannt ihren Ausbildungspflichten nicht mehr in ausreichendem Maße nachkämen. Dem stehe auch nicht das Urteil des BGH vom 16.07.2008 (XII ZR 109/05 – FPR 2008, 509) entgegen, da der BGH dort nicht erklärt habe, was er unter „kleineren“ Kindern verstehe. Zur Fortbildung des Rechts bzgl. der Auslegung von § 1570 BGB und zur Frage, wann der Betreuungsunterhalt gemäß 1578a Abs. 2 BGB befristet werden darf, ließ das Kammergericht die Revision zu.
C. Kontext der Entscheidung
Die Feststellung des Kammergerichts, die Berliner Grundschulen kämen ihren Ausbildungspflichten „gerichtsbekannt“ nicht ausreichend nach, rief in den Berliner Medien herbe Kritik hervor. Abgesehen davon setzt sich das Kammergericht in Widerspruch zu dem von ihm zitierten Urteil des BGH vom 16.07.2008 (XII ZR 109/05 – FPR 2008, 509). Danach hat der Unterhaltsberechtigte darzulegen, inwieweit kindbezogene Gründe vorliegen, die eine Verlängerung des Unterhalts über drei Jahre hinaus erforderlich machen. Der BGH (siehe juris Rn. 101) betont, dass dieser Gesichtspunkt mit der zunehmenden Ausweitung der Vollzeitbetreuung in Kindergärten und Ganztagsschulen künftig an Bedeutung verlieren dürfte. Trotz der gebotenen Ganztagsbetreuung sei bei kleineren Kindern allerdings noch ein Betreuungsanteil bei der Mutter zu berücksichtigen. Das Urteil des BGH betraf ein sechsjähriges Kind, sodass dem Kammergericht durchaus ein Anhaltspunkt dafür vorlag, was der BGH unter kleineren Kindern versteht. Dementsprechend verlangt das OLG Köln (Urt. v. 27.05.2008 – 4 UF 159/07 – NJW 2008, 2659) vom betreuenden Elternteil die Annahme einer Vollzeittätigkeit, soweit ein achtjähriges und ein elfjähriges Kind betreut werden müssen und kommt entgegen dem Kammergericht auch zu einer Befristung des Betreuungsunterhalts. Das AG Mönchengladbach (Urt. v. 18.01.2008 – 39 F 91/05 – FF 2008, 212) verlangt die Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung bei einem Kind in der 4. Klasse.
D. Auswirkungen für die Praxis
Noch ist der Streit, inwieweit ein neues Altersphasenmodell zu schaffen oder die Eigenverantwortlichkeit des betreuenden Elternteils in den Vordergrund zu stellen ist, nicht endgültig entschieden, auch wenn der BGH im Urteil vom 16.07.2008 (XII ZR 109/05 – FPR 2008, 509) zu der letzteren Auffassung tendiert. Wer den Unterhaltsschuldner vertritt, sollte dieses Urteil auswerten und darauf hinweisen, dass sich selbst intakte Familien die Betreuung des Kindes unter der Woche durch einen Elternteil kaum noch leisten können, geschweige denn getrennt lebende Eltern und vor diesem Hintergrund die staatliche Ganztagsbetreuung immer weiter ausgebaut wird. Der Vertreter des Unterhaltsgläubigers wird dagegen in der Begründung des Kammergerichts fündig (vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 09.05.2008 – 2 WF 62/08 – NJW 2008, 2658).