Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle
Bei überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen erlaubt der BGH die Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle. Das wurde ab 2022 mit nunmehr 15 Einkommensgruppen umgesetzt. Außerdem weitete der BGH das Auskunftsrecht des Kindes aus. Anm. Maes zu BGH, Beschluss vom 16.09.2020 – XII ZB 499/19 in Juris Praxisreport Familienrecht 1/2021 vom 12.1.2021
Auswirkungen für die Praxis
BGH lässt konkrete Gestaltung der Fortschreibung offen
Es ist sicher begrüßenswert, Kinder stärker an den überdurchschnittlichen Einkommensverhältnissen ihrer Eltern zu beteiligen. Allerdings liegt der Teufel im Detail. Leider vergrößert die aktuelle Entscheidung die Rechtsunsicherheit und wird das Prozessaufkommen weiter ansteigen lassen. Denn der BGH bürdet den Tatrichtern auf, die Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle zu entwickeln. Dabei lässt er offen, wie genau diese Fortschreibung erfolgen soll.
Unterhaltssteigerung soll moderat ausfallen
Zu Unrecht meint der BGH, degressive Tabellensätze und größere Einkommensgruppen würden sicherstellen, dass der Kindesunterhalt jenseits eines Nettoeinkommens von 5.100 Euro nur moderat steige. Denn sowohl 2020 als auch 2021 sind die Tabellensätze jeweils um durchschnittlich mehr als 5% angehoben worden. Angesichts einer Inflationsrate unter 2% ist das alles andere als moderat. Deshalb ist auch kein moderater Anstieg des Kindesunterhalts jenseits der Höchstgrenze zu erwarten.
BGH lässt offen, wie Luxus und erhöhter Bedarf abzugrenzen sind
Mit keiner Silbe gibt der BGH dem Tatrichter eine Hilfestellung, wie die schwierige Abgrenzung zwischen erhöhtem Bedarf und Luxus bei einem Kind vorzunehmen ist, was zu einem erheblichen Prozesskostenrisiko für das betroffene Kind führt.
Gefahr der Zweckentfremdung von Kindesunterhalt
Weiter unterschätzt der BGH die Gefahr der Zweckentfremdung. Sein Argument, der betreuende Elternteil sei über die Verwendung des Unterhalts gegenüber seinem Kind rechenschaftspflichtig, überzeugt ebenso wenig, wie der Hinweis auf sorgerechtliche Konsequenzen. Schon seit langem liegt der Tabellenunterhalt deutlich höher als der Bedarf der Kinder und führt dadurch zwingend zur Zweckentfremdung. Andernfalls würde nicht derart erbittert um die Betreuung im Residenzmodell gestritten, an die der Tabellenunterhalt geknüpft ist.
BGH fördert die Schieflage im Unterhaltsrecht
Diese seit Jahrzehnten bestehende Schieflage fördert der BGH durch überzogene Anforderungen an das Wechselmodell (vgl. BGH, Beschl. v. 01.02.2017 – XII ZB 601/15). Parallel dazu lehnt er eine adäquate Reduzierung des Kindesunterhalts bei erweiterter Betreuung kategorisch ab (vgl. BGH, Beschl. v. 05.11.2014 – XII ZB 599/13). Aber auch im paritätischen Wechselmodell schreibt der BGH die Zahlung von Kindesunterhalt vor, soweit eine Einkommensdiskrepanz bei den Eltern vorliegt.
Gesetzeswidrige Verfälschung der Haftungsquote (Unterhaltsanteile) der Eltern
Allerdings verfälscht er die Haftungsquote entgegen § 1606 Abs. 3 BGB durch den Vorwegabzug des angemessenen Selbstbehalts von derzeit 1.400 Euro bis zur Unkenntlichkeit. Das führt in vielen Fällen dazu, dass ein besserverdienender Elternteil bei hälftiger Betreuung mehr Unterhalt zahlen muss als im Residenzmodell. Seinen Ursprung hat die ungerechte Ermittlung des Quotenunterhalts in dem antiquierten Urteil des BGH vom 05.11.1985 (IV b 69/84). Der überholte und gesetzeswidrige Vorwegabzug hat sich bis heute in Ziff. 13.3 in den Unterhaltsleitlinien der Oberlandesgerichte gehalten.
Untätigkeit des Gesetzgebers
Es rächt sich, dass der Gesetzgeber im Familienrecht schon seit Langem seine Verantwortung den Gerichten übertragen hat. Allerdings sind die Gerichte in einer Demokratie nicht berufen, Politik zu machen. Die Düsseldorfer Tabelle, ebenfalls ein Konstrukt der Gerichte, wird inzwischen wie ein Gesetz angewendet und soll nun von Richtern fortgeschrieben werden. Dabei ist es originäre Verpflichtung des Gesetzgebers, einfache, nachvollziehbare und gerechte Regelungen zum Kindesunterhalt zu entwickeln.
Hohes Kostenrisiko der Betroffenen wegen unklarer Rechtslage
Die Leidtragenden dieser Pflichtverletzung sind die betroffenen Familien, denen der Gesetzgeber mangels klarer gesetzlicher Kriterien teure Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang zumutet. Auf der anderen Seite nötigt er die Familienrichter, sich mit endlosen Verfahren herumquälen, die streitlustige Eltern zur Bühne ihrer Befindlichkeiten machen. Bei dieser Entwicklung kann man es dem BGH nicht verdenken, das Heft in die Hand zu nehmen. Dann aber sollte sich der BGH stärker mit der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der betroffenen Familien befassen und durch seine Rechtsprechung zu einer Entlastung unseres Rechtssystems beitragen.
Kontext der Entscheidung
Die vorliegende Entscheidung vervollständigt die neuere Rechtsprechung des BGH zum Unterhalt bei überdurchschnittlich guten Einkommensverhältnissen. Es ist nicht mehr möglich, sich gegenüber einem Auskunftsanspruch auf uneingeschränkte Leistungsfähigkeit zu berufen. Das Kind muss selbst bei einem Nettoeinkommen des Unterhaltszahlers von mehr als 5.100 Euro nicht mehr seinen konkreten Bedarf darlegen. Stattdessen kann der Bedarf über die Fortschreibung der Tabellenwerte durch den Tatrichter bestimmt werden. Eine ähnliche Erleichterung hatte der BGH bereits durch Ausweitung des Quotenunterhalts für Erwachsene beschlossen (vgl. BGH, Beschl. v. 25.09.2019 – XII ZB 25/19).
Leitsätze des Gerichts
- Ein Auskunftsanspruch des Kindes gegen den barunterhaltspflichtigen Elternteil entfällt nicht allein aufgrund der Erklärung des Unterhaltspflichtigen, er sei „unbegrenzt leistungsfähig“ (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 15.11.2017 – XII ZB 503/16 – BGHZ 217, 24 = FamRZ 2018, 260).
- Eine begrenzte Fortschreibung der in der Düsseldorfer Tabelle enthaltenen Bedarfsbeträge bis zur Höhe des Doppelten des höchsten darin (zur Zeit) ausgewiesenen Einkommensbetrags ist nicht ausgeschlossen (Fortführung BGH, Beschl. v. 15.11.2017 – XII ZB 503/16 – BGHZ 217, 24 = FamRZ 2018, 260 und BGH, Beschl. v. 25.09.2019 – XII ZB 25/19 – BGHZ 223, 203 = FamRZ 2020, 21; teilweise Aufgabe von BGH, Urt. v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98 – FamRZ 2000, 358 und BGH, Urt. v. 11.04.2001 – XII ZR 152/99 – FamRZ 2001, 1603).
- Übersteigt das Einkommen des Unterhaltspflichtigen diesen Betrag, bleibt eine Einkommensauskunft bei Geltendmachung eines neben dem Tabellenbedarf bestehenden Mehrbedarfs erforderlich, um die jeweilige Haftungsquote der Eltern bestimmen zu können.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Auskunft trotz Zahlung des Höchstsatzes der Düsseldorfer Tabelle
Ein minderjähriges Kind verlangt vom überdurchschnittlich gutverdienenden Vater Auskunft. Der Vater zahlt bereits 160% des Mindestunterhalts nach der höchsten Gruppe der Düsseldorfer Tabelle und verweigerte seine Auskunft unter Verweis auf seine unbeschränkte Leistungsfähigkeit. Das Familiengericht und das Oberlandesgericht verpflichteten ihn trotzdem zur Auskunft, was der BGH bestätigt hat.
Düsseldorfer Tabelle kennt keine Grenze nach oben
Die Düsseldorfer Tabelle begrenze den Kindesunterhalt nicht nach oben. Deshalb sei bei Überschreiten der Einkommensgrenze der Unterhaltsbedarf des Kindes nach den Umständen des Einzelfalles zu bestimmen. Schließlich nehme ein Kind entsprechend seinem Alter an besonders günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen seiner Eltern teil.
Keine Teilhabe des Kindes am Luxus der Eltern
Zwar habe es keinen Anspruch auf Teilhabe am Luxus. Aber die Abgrenzung, welche Aufwendungen für das Kind noch als angemessener Bedarf und welche bereits als Luxus anzusehen seien, könne erst vorgenommen werden, wenn das Einkommen des unterhaltspflichtigen Elternteils bekannt sei. Darüber hinaus sei die Auskunft für die Ermittlung der Unterhaltsquote beim Mehrbedarf erforderlich. Demgegenüber entfalle eine Auskunftsverpflichtung nur dann, wenn die Auskunft unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Einfluss auf den Unterhalt habe (vgl. BGH, Beschl. v. 15.11.2017 – XII ZB 503/16 Rn. 14 m.w.N. – BGHZ 217, 24).
BGH gibt seine frühere Rechtsprechung zum Kinderunterhalt auf
Zur Bemessung des angemessenen Unterhalts werde nach einhelliger Praxis der Familiengerichte die Düsseldorfer Tabelle verwendet. Seit dem 01.01.2008 basiere sie auf dem in § 1612a Abs. 1 BGB gesetzlich definierten Mindestunterhalt der jeweiligen Altersstufe. Eine über die höchste Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle hinausgehende Fortschreibung der Tabellenwerte habe der BGH bislang nicht für sachgerecht gehalten und stattdessen eine konkrete Bedarfsermittlung verlangt (vgl. BGH, Urt. v. 13.10.1999 – XII ZR 16/98 und BGH, Urt. v. 11.04.2001 – XII ZR 152/99). Daran halte der BGH nicht mehr uneingeschränkt fest.
BGH gewährt Erleichterungen beim Ehegattenunterhalt seit November 2017
In seiner neueren Rechtsprechung habe der BGH bereits einen Quotenunterhalt ohne konkrete Bedarfsermittlung nach dem zweifachen Einkommen der Düsseldorfer Tabelle zugelassen (vgl. BGH, Beschl. v. 15.11.2017 – XII ZB 503/16 und BGH, Beschl. v. 25.09.2019 – XII ZB 25/19). Ähnliches müsse auch für den Kindesunterhalt gelten, unabhängig davon, ob die Kinder schon einmal an den überdurchschnittlichen Lebensverhältnissen teilgenommen hätten. Schließlich nähmen Kinder auch an einem Karrieresprung des Unterhaltspflichtigen teil. Allerdings hätten Kinder keinen Anspruch auf Teilhabe am Luxus der Eltern. Außerdem diene der Kindesunterhalt nicht der Vermögensbildung (vgl. BGH, Beschl. v. 23.02.1983 – IVb ZR 362/81). Schließlich berechtige der Kindesunterhalt nicht zu einer gleichen Teilhabe am Elterneinkommen. Diese Grundsätze würden durch die Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle nicht berührt.
BGH will nur eine moderate Steigerung
So sei die in der Düsseldorfer Tabelle enthaltene Steigerung degressiv ausgestaltet. Außerdem könnte über größer dimensionierte Einkommensgruppen nachgedacht werden. Dadurch würde es nur zu einer moderaten Steigerung beim Kindesunterhalt kommen.
BGH sieht keine Gefahr der Zweckentfremdung des Kindesunterhalts
Eine zweckentfremdete Verwendung des Kindesunterhalts durch den betreuenden Elternteil habe bereits nach alter Rechtslage bestanden. Aber sie sei durch eine realistische Unterhaltsbemessung begrenzt. Außerdem sei der betreuende Elternteil dem Kind rechenschaftspflichtig und müsste bei Zweckentfremdung des Kindesunterhalts mit sorgerechtlichen Konsequenzen rechnen.
Siehe auch den Beitrag: Kindesunterhalt – Zahlungsverpflichtung trotz fehlenden Einkommens