Billigkeitsunterhalt ab dem dritten Lebensjahr eines Kindes, Verwirkung
Anm. Maes zu BGH, Urteil vom 6.5.2009, Az. XII ZR 114/08 in Juris Praxisreport Familien- und Erbrecht 17/2009 vom 25.8.2009 (zur Verwirkung unter E.)
Leitsätze
- Im Rahmen der Billigkeitsentscheidung über eine Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen nach § 1570 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BGB ist zunächst der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die notwendige Betreuung der Kinder auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Betreuungseinrichtungen gesichert werden könnte. Ein Altersphasenmodell, das bei der Frage der Verlängerung des Betreuungsunterhalts aus kindbezogenen Gründen allein auf das Alter der Kinder abstellt, wird diesen Anforderungen nicht gerecht (im Anschluss an das Senatsurteil vom 18.03.2009 – XII ZR 74/08 – FamRZ 2009, 770).
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Soweit die Betreuung der Kinder auf andere Weise sichergestellt oder in einer kindgerechten Einrichtung möglich ist, kann einer Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils auch entgegenstehen, dass der ihm daneben verbleibende Anteil an der Betreuung und Erziehung der Kinder zu einer überobligationsmäßigen Belastung führen kann (im Anschluss an die Senatsurteile vom 18.03.2009 – XII ZR 74/08 – FamRZ 2009, 770 und vom 16.07.2008 – XII ZR 109/05 – FamRZ 2008, 1739, 1748 f.).
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Eine Befristung des Betreuungsunterhalts nach § 1578b BGB scheidet schon deswegen aus, weil § 1570 BGB in der seit dem 01.01.2008 geltenden Fassung insoweit eine Sonderregelung für die Billigkeitsabwägung enthält. Eine Begrenzung des Betreuungsunterhalts vom eheangemessenen Unterhalt nach § 1578 Abs. 1 BGB auf den angemessenen Unterhalt nach der eigenen Lebensstellung setzt einerseits voraus, dass die notwendige Erziehung und Betreuung gemeinsamer Kinder trotz des abgesenkten Unterhaltsbedarfs sichergestellt und das Kindeswohl auch sonst nicht beeinträchtigt ist, andererseits eine fortdauernde Teilhabe des betreuenden Elternteils.
A. Problemstellung
Welche Voraussetzungen müssen für den aus Billigkeit über drei Jahre hinaus verlängerten Betreuungsunterhalt erfüllt sein? Wie sind die Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils und der noch verbleibende Betreuungsunterhalt zu bemessen? Inwieweit darf der Billigkeitsunterhalt der Höhe nach begrenzt werden? Wann ist ein Unterhaltsanspruch gemäß § 1579 Nr. 5 BGB verwirkt?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das AG Villingen-Schwenningen hatte einer Mutter Betreuungsunterhalt von 796 € zugesprochen. Zum Zeitpunkt der Scheidung im Jahr 2004 waren die Kinder acht und zehn Jahre alt. Eines der beiden Kinder leidet seit seiner Geburt unter ADS (Aufmerksamkeitssyndrom). Damals arbeitete die Mutter ca. 20 Wochenstunden als freiberufliche Krankengymnastin und erzielte ein Nettoeinkommen von 838 €. Auf die Berufung des Ehemannes wurde der Unterhalt vom OLG Karlsruhe im Hinblick auf das Unterhaltsreformgesetz und im Hinblick auf die inzwischen auf 25- 30 Stunden ausgeweitete Erwerbstätigkeit der Mutter ab dem 01.01.2008 stufenweise auf zuletzt 378 € herabgesetzt, in denen ein Altersvorsorgeunterhalt von 76 € enthalten ist.
Auf die vom OLG Karlsruhe zugelassene Revision hob der BGH das Urteil auf und verwies es zur Ermittlung weiteren Sachverhaltes zurück. Es sei nicht hinreichend ermittelt worden, ob eine Ganztagsbetreuung der Kinder möglich sei (Rn. 35). Weiter seien keine Feststellungen dazu getroffen worden, inwieweit sich am Abend nach Rückkehr in die Familienwohnung weiterer Betreuungsbedarf ergebe, der trotz Ganztagsbetreuung der Kinder zu einer eingeschränkten Erwerbsobliegenheit der Kindesmutter führen könne (Rn. 37). Die Befristung des Betreuungsunterhaltes habe das Berufungsgericht zu Recht abgelehnt.
Unter Berufung auf seine Entscheidung vom 18.03.2009 (XII ZR 74/08 – Rn. 42 – FamRZ 2009, 770) betonte der BGH nochmals, dass eine Befristung des Betreuungsunterhaltes gemäß § 1578b BGB schon deshalb nicht möglich sei, weil § 1570 BGB als Sonderregelung vorgehe. Lediglich eine Begrenzung des Unterhaltes, also die Kürzung auf den angemessenen Bedarf nach der eigenen Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten, sei möglich. Allerdings müsse die notwendige Erziehung und Betreuung gemeinsamer Kinder trotz abgesenkten Unterhaltsbedarfs sichergestellt sein. Bei Nettoeinkünften von monatlich nur 838 € zuzüglich dem vom Berufungsgericht zugesprochenen Elementarunterhalt von 302 € werde der angemessene Unterhalt nach der eigenen Lebensstellung ohne ehebedingte Nachteile nur unwesentlich überschritten.
C. Kontext der Entscheidung
Unter Anknüpfung an seine Urteile vom 16.07.2008 (XII ZR 109/05 – FamRZ 2008, 1739) und vom 18.03.2009 (XII ZR 74/08 – FamRZ 2009, 770) verfeinert der BGH die Prüfungssystematik bei der Verlängerung des so genannten Billigkeitsunterhalts gemäß § 1578b BGB für die Betreuung nach Ablauf der ersten drei Lebensjahre eines Kindes. Nochmals erteilt der BGH allen Bestrebungen eine Absage, das frühere Altersphasenmodell, in welcher Modifikation auch immer, bei der Prüfung des Betreuungsunterhaltes anzuwenden. Wie bereits im Urteil vom 18.03.2009 (XII ZR 74/08 – Rn. 41) ausgeführt, sei eine Befristung des Anspruchs gemäß § 1578b BGB ausgeschlossen, da § 1570 BGB als Sonderregelung vorgehe und der auf drei Jahre befristete Betreuungsunterhalt zusammen mit dem Billigkeitsunterhalt ab drei Jahren einen einheitlichen Unterhaltsanspruch darstelle. Eine Begrenzung des Billigkeitsunterhalts auf den angemessenen Bedarf nach der eigenen Lebensstellung sei demgegenüber möglich, soweit dadurch die notwendige Erziehung und Betreuung des Kindes nicht gefährdet sei. Kindbezogene Gründe seien stets vorrangig zu prüfen (Rn. 28).
Nachdem der Gesetzgeber für Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres grundsätzlich den Vorrang der persönlichen Betreuung gegenüber anderen kindgerechten Betreuungsmöglichkeiten aufgegeben habe, sei in erster Linie der individuelle Umstand zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Kindesbetreuung auf andere Weise gesichert ist oder in kindgerechten Einrichtungen gesichert werden könnte. Bei möglicher Ganztagsbetreuung seien darüber hinaus elternbezogene Gründe zu prüfen (Rn. 36), denen allerdings nur geringes Gewicht im Rahmen der Billigkeitsprüfung zukomme (vgl. BGH, Urt. v. 16.07.2008 – XII ZR 109/05 – Rn. 102). Dabei sei das Alter der Kinder zu beachten. Die Betreuung kleinerer Kindern werde nach Rückkehr des betreuenden Elternteils von der Arbeit umfangreicher sein, mit steigendem Alter des Kindes dagegen zurücktreten, was dann zu einer gesteigerten Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteiles führe.
D. Auswirkungen für die Praxis
Der BGH nutzte die vom OLG Karlsruhe zugelassene Revision, um seine Auslegung des Betreuungsunterhaltes noch einmal deutlich zu skizzieren und aufzuzeigen, wie eingehend kindbezogene und elternbezogene Gründe zu prüfen sind, um zu einer Verlängerung des Betreuungsunterhaltes nach Billigkeitsgesichtspunkten zu kommen. Bei Urteilen des BGH sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass ein Rechtsstreit regelmäßig nur bis zum Oberlandesgericht geführt werden kann, da weder nach jetziger Rechtslage noch nach dem FamFG eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich ist, so dass es alleine im Ermessen des Oberlandesgerichts steht, ob es eine Revision zulässt. Vor diesem Hintergrund wird es trotz der Vorgaben des BGH weiterhin regionale Unterschiede in der Auslegung des § 1570 BGB geben.
Neben allen Unwägbarkeiten, die die Verkürzung des Rechtsweges für den Familienrechtler mit sich bringt, soll aber auch auf die Chancen des Rechtsanwenders hingewiesen werden: Die Feststellung des BGH, § 1570 BGB sei eine Sonderregelung gegenüber § 1578b BGB, wird weder vom Gesetzestext noch von dem Motiven des Gesetzgebers in der BT-Drs. 16/6980 vom 07.11.2007 getragen. Letztlich gibt es kein überzeugendes Argument, weshalb der Betreuungsunterhalt nach dem dritten Lebensjahr eines Kindes nicht befristet werden darf. Im Gegenteil – in § 1570 Abs. 1 Satz 2 heißt es: „Die Dauer des Unterhaltsanspruchs verlängert sich, solange … dies der Billigkeit entspricht.“ Dementsprechend ist nach Brudermüller (in: Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, § 1570 Rn. 8) „… ggf. auch eine Befristung des Unterhaltsanspruchs gem. § 1578b BGB … zu erwägen“. In der Kommentierung zu § 1578b BGB Rn. 3 heißt es: „Eine Herabsetzung des Anspruchs und eine Befristung erstreckt sich auf alle Tatbestände (§§ 1570-1573).“ Selbst, wenn man der Auffassung des BGH folgen wollte, bleibt immer noch die Möglichkeit, die Befristung direkt aus der Billigkeitsregelung des § 1570 BGB herzuleiten. Dann spielt es allerdings keine Rolle mehr, ob § 1570 BGB als Sonderregelung anzusehen ist. Daher wird es auch weiterhin darauf ankommen, beherzt an der Auslegung der neuen Vorschriften mitzuwirken.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Im dritten Teil seines Urteils äußerte sich der BGH zu den Voraussetzungen einer Verwirkung nach § 1579 Nr. 5 BGB (mutwilliges Hinwegsetzen über schwerwiegende Vermögensinteressen des Unterhaltspflichtigen) und stellte klar, dass an die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale sehr hohe Anforderungen zu stellen sind. Eine Gehaltspfändung mit der Folge einer vereitelten Beförderung auf eine Position mit einem zusätzlichen Einkommen von 300 € sei keine schwerwiegende Pflichtverletzung gemäß § 1579 Nr. 5 BGB. Auch die Strafanzeigen wegen falscher eidesstattlicher Versicherung, Vollstreckungsvereitelung und Unterhaltspflichtverletzung seien nicht aus der Luft gegriffen gewesen. Die schriftliche Unterrichtung des Dienstvorgesetzten über die eingeleiteten Strafverfahren stelle keine schwerwiegende Gefährdung der Vermögensinteressen des Unterhaltspflichtigen dar. Die Gefährdung ergebe sich vielmehr aus dessen vorangegangenem strafbarem Verhalten. Auch die Gesamtheit der genannten Umstände führe nicht zu einer Verwirkung des Unterhaltsanspruchs, da in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt worden sei.