Alleinige Sorge für Kindesmutter trotz Umgangsvereitelung – BGH
Anmerkung Maes zu: BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 12.12.2007 – XII ZB 158/05 in Juris Praxisreport Familien- und Erbrecht 3/2009 Anm. 3
Leitsatz
Zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge, wenn der die Alleinsorge begehrende Elternteil für die völlige Zerrüttung der sozialen Beziehungen zwischen den Eltern (haupt-)verantwortlich ist.
A. Problemstellung
Unter welchen Umständen ist die Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil gerechtfertigt, der maßgeblich für die Zerrüttung des Elternverhältnisses verantwortlich ist? Kann die Beibehaltung gemeinsamer elterlicher Sorge trotz tief greifender Konflikte der Eltern dem Kindeswohl besser dienen als die Alleinsorge? Wann haben mildere Eingriffe in die gemeinsame Sorge Vorrang?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die unverheirateten Eltern streiten um die elterliche Sorge für die gemeinsamen Kinder im Alter von elf und sechs Jahren, die seit ihrer Geburt bei der Mutter lebten, während der verheiratete Vater während der Beziehung zur Mutter weiterhin mit seiner Ehefrau zusammenlebt, mit der er zwei bereits erwachsene Kinder hat.
Die Kinder hatten nach der Trennung ihrer Eltern bis Februar 2003 Kontakt mit dem Vater und waren zu diesem Zeitpunkt sieben und zwei Jahre alt. Danach unterband die Mutter den Umgang mit der Begründung, der Vater sei pädophil und es bestehe der konkrete Verdacht des sexuellen Missbrauchs, der jedoch durch ein Sachverständigengutachten nicht bestätigt wurde. Im Zeitraum von April 2004 bis Januar 2005 fanden zehn beschützte Umgangskontakte zwischen Vater und Kindern statt. Einem daran anschließenden unbegleiteten Umgang widersetzte sich die Mutter. Sie machte ein neues Verfahren anhängig mit dem Ziel, den Umgang der Kinder mit ihrem Vater für die Dauer von drei Jahren auszuschließen.
Im vorliegenden Sorgerechtsverfahren übertrug das Familiengericht der Mutter auf ihren Antrag die alleinige elterliche Sorge. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Vaters, der sich für die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge ausgesprochen hatte, wurde vom Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der hiergegen zugelassenen Rechtsbeschwerde zum BGH hatte der Vater keinen Erfolg.
Der BGH bestätigte seine bisherige Rechtsprechung, wonach die elterliche Sorge bei getrennt lebenden Eltern einem Elternteil auf seinen Antrag auch ohne Zustimmung des anderen Elternteils allein zu übertragen sei, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspräche. Insbesondere könne aus dem Gesetz kein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Fortbestandes der gemeinsamen elterlichen Sorge hergeleitet werden. Ebenso wenig bestehe eine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge nach der Trennung der Eltern im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung sei (BGH, Senatsbeschl. v. 29.09.1999 – XII ZB 3/99 – FamRZ 1999, 1646, BGH, Senatsbeschl. v. 11.05.2005 – XII ZB 33/04 – FamRZ 2005, 1167). In der kinderpsychologischen und familienpsychologischen Forschung bestehe weiterhin keine empirisch gesicherte Grundlage, wonach die gemeinsame elterliche Sorge nach der Trennung der Eltern dem Kindeswohl prinzipiell förderlicher sei als die Alleinsorge eines Elternteils. Dies sei auch vom BVerfG im Kammerbeschluss vom 18.12.2003 (1 BvR 1140/03 – FamRZ 2004, 354) bestätigt worden.
Die gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung setze ein Mindestmaß an Übereinstimmung in wesentlichen Sorgebereichen und insgesamt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus. Hierzu gehöre insbesondere die Übereinstimmung über den persönlichen Umgang des Kindes mit dem nicht betreuenden Elternteil.
Da die Mutter nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts jegliche positive Mitwirkung an der gerichtlichen Umgangsregelung verweigere, nichts unversucht lasse, eine Abänderung der bestehenden Umgangsregelung zu erreichen und dabei auch die Verhängung von Zwangsgeldern in Kauf nehme, müsse festgestellt werden, dass zwischen den Eltern nicht etwa Abstimmungsprobleme bestünden, sondern keinerlei Übereinstimmung herzustellen sei. Es sei auch keine günstige Prognose möglich, wonach sich eine Verständigungsbereitschaft unter dem Druck gemeinsamer elterlicher Sorge in absehbarer Zeit wieder herstellen lasse.
Entgegen der Auffassung des OLG Dresden (Beschl. v. 03.08.1999 – 22 UF 121/99 – FamRZ 2000, 109) und des OLG Karlsruhe (Beschl. v. 23.04.2002 – 5 UF 29/02 – FamRZ 2002, 1209) sei die gemeinsame elterliche Sorge nicht geeignet, das pflichtwidrige Verhalten des nicht kooperierenden Elternteils zu sanktionieren, um auf diese Weise den Elternrechten des kooperationsfähigen und -willigen Elternteils Geltung zu verschaffen. Dem stehe entgegen, dass sich die Elterninteressen in jedem Fall dem Kindeswohl unterzuordnen hätten (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 30.11.1988 – 1 BvR 37/85 – BVerfGE 79, 203, BVerfG, Beschl. v. 01.08.1996 – 2 BvR 1119/96 – FamRZ 1996, 1266, 1267).
Ein fortgesetzter destruktiver Elternstreit führe für ein Kind zwangsläufig zu erheblichen Belastungen, und zwar unabhängig davon, welcher Elternteil die Verantwortung für die fehlende Verständigungsmöglichkeit trägt.
Im vorliegenden Fall sei auch keine Teilentscheidung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als milderes Mittel möglich, zumal die Umgangsrechte des nicht sorgeberechtigten Elternteils gemäß § 1684 BGB gegenüber umgangsbeschränkenden Bestimmungen des Alleinsorgeberechtigten vorrangig seien (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 02.03.2000 – 5 UF 134/99 – FamRZ 2000, 1042).
In einem zweiten Schritt sei zu prüfen, auf welchen Elternteil die Sorge zu übertragen sei. Nach den zutreffenden Feststellungen des Oberlandesgerichts seien die besondere emotionale Bindung der Kinder an die Mutter und die Erziehungskontinuität im Haushalt der Mutter maßgeblich und überwögen das erzieherische Versagen der Mutter in Teilbereichen, nämlich u.a. in Bezug auf die Herstellung und Erhaltung der Bindungen zum Vater. Dieser habe in der Vergangenheit noch nie über einen längeren Zeitraum mit seinen Kindern in häuslicher Gemeinschaft gelebt, was schon angesichts seines hohen Lebensalters verständlich sei.
C. Kontext der Entscheidung
Der BGH wendet sich deutlich gegen die Praxis diverser Oberlandesgerichte, mit dem Instrument der gemeinsamen elterlichen Sorge die Eltern zur Kooperationsfähigkeit und zum Kooperationswillen zu zwingen. Das vorliegende Urteil ist letztlich die Konsequenz der bisherigen Rechtsprechung des BGH und des BVerfG zu den Voraussetzungen für die Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil. Ausgangspunkt ist die grundlegende Entscheidung des BGH zum dem seiner Ansicht nach nicht gegebenen Regel/Ausnahmeverhältnis zwischen gemeinsamer und Alleinsorge (vgl. BGH, Beschl. v. 29.09.1999 – XII ZB 3/99 – FamRZ 1999, 1646). Hauptargument des BGH ist, die Kinder von den Streitigkeiten der Eltern zu entlasten. Dem ließe sich entgegenhalten, dass sich die Streitigkeiten der Eltern regelmäßig beim Umgangsrecht fortsetzen, so dass die Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil gerade nicht zwingend zu einer Entlastung der Kinder von den Konflikten der Eltern führt.
Dementsprechend wird Herangehensweise des BGH bis heute von vielen Oberlandesgerichten nicht befolgt, auch wenn sie sich in ihren Entscheidungen – scheinbar – auf die Vorgaben des BGH beziehen:
Konflikte beim Umgang rechtfertigen für sich noch nicht die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 02.03.2000 – 5 UF 134/99 – FamRZ 2000, 1042). Eltern dürfen nicht ohne weiteres aus ihrer Verpflichtung entlassen werden, einen Konsens zu finden, solange ihnen gemeinsames Erziehungshandeln zumutbar ist (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 01.10.1998 – 5 UF 24/98 – NJW 1998, 3786). Fehlende objektive Kooperationsfähigkeit und subjektive Kooperationsbereitschaft nur auf Seiten eines Elternteils rechtfertigen die Anordnung der Alleinsorge nur dann, wenn seine Haltung nicht willkürlich erscheint (OLG Dresden, Beschl. v. 03.08.1999 – 22 UF 121/99 – FamRZ 2000, 109). Mangelnde Kooperationsbereitschaft gebietet nicht zwangsläufig und nicht als Regelfall die Aufhebung des gemeinsamen Sorgerechts (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23.04.2002 – 5 UF 29/02 – FamRZ 2000, 1209). Fehlende Bindungstoleranz kann Anlass sein, dem betreffenden Elternteil die Alleinsorge nicht zu übertragen (OLG Köln, Beschl. v. 13.12.2007 – 4 UF 93/07 – jurisPR-FamRZ 6/2008 Anm. 6, Leiss). Erhebliche Streitigkeiten zwischen den Eltern führen nicht notwendig zur Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge (OLG Brandenburg, Beschl. v. 04.04.2008 – 10 UF 235/07).
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil des BGH erscheint nur auf den ersten Blick radikal. Letztlich gab das fortgeschrittene Alter des Vaters und die durchgängige Betreuung der Kinder durch die Mutter ohne Einbeziehung des Vaters, der auch nicht im gleichen Haushalt wohnte, den Ausschlag dafür, der Mutter die Alleinsorge zu übertragen.
Daher wird es für die Mandatsbearbeitung weiterhin auf die Rechtsprechung der einzelnen Oberlandesgerichte bzw. ihrer Senate ankommen. So ist etwa beim OLG Brandenburg und anderen „verwandten“ Gerichten zu beobachten, dass dort häufig nur einzelne Bereiche der elterlichen Sorge auf einen Elternteil übertragen werden, i.d.R. das Aufenthaltsbestimmungsrecht.
Wie schon in der Vergangenheit werden die meisten Sorgerechtsentscheidungen Einzelfallentscheidungen bleiben, seien sie nun von einem Oberlandesgericht, dem BGH oder dem BVerfG getroffen.